Die Selbstverwaltung im Gespräch
Soziale Selbstverwaltung ist kein closed-shop!
2023 ist das Jahr der Sozialversicherungswahlen. Kranken- und Rentenversicherungen wählen für weitere sechs Jahre ihre Verwaltungsräte bzw. Vertreterversammlungen. Der BKK Landesverband Mitte spricht mit den beiden alternierenden Vorsitzenden seines Verwaltungsrates, Rolf Dohm (Arbeitgebervertreter) und Roland Brendel (Versichertenvertreter) über die Bedeutung der Sozialwahlen, neue Herausforderungen an die Selbstverwaltung und Forderungen an die Politik. Der langjährige Vorsitzende Rolf Dohm beendet zum 31. Juli 2023 seine Tätigkeiten in den Gremien der Selbstverwaltung des BKK Landesverbandes Mitte und gibt den Vorsitz im Verwaltungsrat an Dr. Wolfgang Hoffmann von der BKK VBU ab.
Mehr als 52 Millionen Menschen in Deutschland sind wahlberechtigt. Dennoch üben nur wenige ihr Stimmrecht aus. Was könnte die Ursache dafür sein?
Roland Brendel:
Die Rentenversicherung hat alle Wahlberechtigten angeschrieben. Aber: Bei nur 22 Prozent Wahlbeteiligung muss man sagen, dass das System nicht gelebt wird. Im Grunde geht es schon damit los, dass im Elternhaus oder in der Schule falsche Prioritäten gesetzt werden. Sozialkompetenz ist mehr als nur den Unterschied zwischen Brutto und Netto zu kennen.
Rolf Dohm:
Viele wissen nicht, dass dieses Jahr Sozialversicherungswahlen sind. Dabei betrifft das alle Bundesbürger: Beschäftigte, nicht Erwerbstätige – und viele mehr. Hier muss der Gesetzgeber mehr in die Öffentlichkeitsarbeit investieren, um die Akzeptanz zu erhöhen. Wie Krankenversicherung funktioniert, sollte Allgemein- und Basiswissen sein.
Viele sehen die Ursache der Problematik in den Friedenswahlen mit ihren festen Wahllisten. Sollte der Fokus nicht stärker auf Einzelpersonen liegen?
Roland Brendel:
Bei Urwahlen können Einzelne antreten, die niemand kennt. Da besteht die Gefahr, dass das Engagement groß ist, solange persönliche Interessen im Vordergrund stehen. Sind diese erfüllt, lässt dann auch die persönliche Beteiligung nach. Bei den Friedenswahlen wählt man etablierte Organisationen wie Verbände und Gewerkschaften. Diese Organisationen haben das erforderliche politische know-how und wissen, wie man beispielsweise in Widerspruchsangelegenheiten die Versicherteninteressen vertritt. Sie sorgen mit Schulungen dafür, dass die Listenkandidaten gut vorbereitet sind.
Rolf Dohm:
Friedenswahlen sind ein demokratisches Verfahren und waren schon immer Bestandteil der Wahlhandlung. Es hat immer Diskussionen im Vorfeld gegeben, und alle Wahlberechtigten haben auch die Möglichkeit, sich selbst aufstellen zu lassen.
Aus der Politik hört man oft, dass Entscheidungsprozesse der Selbstverwaltung zu lange dauern.
Rolf Dohm:
Wir vertreten 73 Millionen Versicherte, da dauern demokratische Entscheidungsprozesse eben etwas, denn es gilt auch dabei der Grundsatz „Qualität vor Schnelligkeit“.
Roland Brendel:
Mich stört die latente Kritik am Ehrenamt. Die Politik braucht die Selbstverwaltung. Beispielsweise werden Bundesgesetze erst durch die Arbeit von selbstverwalteten Körperschaften wie den BKK Landesverbänden in Verträge und damit in regionale Versorgung umgesetzt.
Selbstverwaltung ist ein Teil der sozialen Sicherung in Deutschland. Wird ihre Arbeit durch die Politik angemessen gewürdigt?
Rolf Dohm:
Auf der einen Seite macht die Politik teure Gesetze. Auf der anderen Seite heißt es aber immer „Die bösen Kassen“, wenn die GKV ihre Beitragssätze anheben muss, um die Gesetze zu bezahlen. Hier muss man sich doch fragen: Wer ist denn eigentlich für die hohen Beitragssätze verantwortlich?
Roland Brendel:
Würdigung besteht auch darin, den Beteiligten mehr Freiraum für ihre Arbeit zu ermöglichen. Es gab schon Gesetzgebungsverfahren, bei denen die Referentenentwürfe um zwei Uhr nachts verschickt wurden und wir zwei Tage später Stellung nehmen sollten.
Interview
Gemeinsam
auf dem Weg
Gelegentlich werden Forderungen nach weniger Krankenkassen laut. Die Befürworter argumentieren, das würde Kosten sparen.
Rolf Dohm:
Wir haben nicht zu viele Krankenkassen. Natürlich war das System vor zwei Jahrzehnten deutlich umfassender. Heute haben wir weniger Körperschaften, aber dafür auch mit regionalem Bezug. Es mag sein, dass Großkassen mit zehn oder zwölf Millionen Mitgliedern rechnerisch effizient sind. Aber eine Werkskasse mit 40.000 Versicherten ist deutlich versichertennäher. Das merkt man auch an einer höheren Identifikation der Versicherten mit der eigenen Krankenkasse, die in den großen Einheiten teilweise verloren gegangen ist.
Roland Brendel:
Patienten haben bei uns Freiheiten, die andere Länder gar nicht bieten. Da wird viel stärker in der Versorgung gesteuert. Wenn bei uns die Sozialversicherungsträger eine Leistung ablehnen, können Versicherte Widerspruch einreichen. Darüber berät dann der zuständige Widerspruchsausschuss, in dem Versichertenvertreter und Arbeitgebervertreter beteiligt sind. Nämlich die, die durch die Sozialwahlen legitimiert wurden. Wenn die Widersprüche berechtigt sind, erhalten die Versicherten sogar rückwirkend ihre Leistungen erstattet.
In der Selbstverwaltung der Betriebskrankenkassen gibt es Arbeitgebervertreter und Versichertenvertreter. Ist das eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe?
Roland Brendel:
Bei allen Unterschieden zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt es doch einen guten Zusammenhalt und eine gute partnerschaftliche Zusammenarbeit. Beide haben das gleiche Ziel, nämlich die optimale Versorgung.
Rolf Dohm:
Arbeitgeber und Versicherte sind beide in der Selbstverwaltung vertreten, weil beide Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Und das gemeinsame Aufgabenspektrum ist umfassend: Beschluss des Haushaltsplanes, Beschluss der Beitragssätze, Abnahme und Prüfung der Jahresrechnung, die Bestellung des Vorstandes – alles, was im Sozialgesetzbuch vorgesehen ist.
Wer Beiträge zahlt, soll mitbestimmen. Welche Rolle spielt die Selbstverwaltung bei der Organisation einer wohnortnahen Versorgung?
Rolf Dohm:
Ohne die engagierten Selbstverwalter wäre beispielsweise die Pandemiebewältigung nicht so reibungslos vonstattengegangen. Die Kostenbelastung konnten wir so auffangen, dass das System heute weitgehend gesund ist und weiterhin Versorgung auf höchstem Niveau bietet.
Roland Brendel:
Die moderne Krankenversicherung ist weit mehr als nur Absicherung im Krankheitsfalle. Heute organisieren unsere Betriebskrankenkassen in den Unternehmen Projekte zur Gesundheitsförderung und Prävention, also das, was zu einem zeitgemäßen Leistungspaket der Arbeitswelt gehört.
Gibt es etwas, das Sie unserer Leserschaft zum Abschluss mit auf den Weg geben möchten?
Roland Brendel:
Mehr Menschen sollten sich für die Selbstverwaltungsgremien interessieren. Dann wird auch die Politik reagieren und mehr Freiraum lassen.
Rolf Dohm:
Ich lade alle Versicherten und Bundesbürger ausdrücklich ein, sich in der Selbstverwaltung zu engagieren und die Entwicklung der Sozialversicherung mit zu gestalten.